Wildcat-Zirkular Nr. 46/47 - Februar 1999 - S. 2-4 [z46edito.htm]


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Editorial

Nun ist es passiert - der Koloß ist von Bord gegangen und wir haben eine neue Regierung. Eingriffe, Angriffe und Umbauten, die in der blockierten, ausgelutschten alten Koalition nicht mehr möglich waren, werden frisch und unverfroren angegangen: der Jugend soll mit dem Programm der 100 000 Ausbildungsplätze für Jugendliche endlich wieder klargemacht werden, daß ein Leben ohne Arbeit nicht angesagt ist. Die MigrantInnen sollen gespalten werden in Integrierte und die anderen, die SPD hat mit Parolen wie »Kriminelle Ausländer raus!« die Wahl gewonnen.

A., ein Berliner Genosse mit türkischem Paß, äußert Kritik am Gesetzesentwurf für die Staatsbürgerschaft. Das Gesetz legt die Latte für die Einbürgerungswilligen zum Teil höher als bisher:

Möglicher Kritik wird vorgebeugt, indem SPD und CDU arbeitsteilig vorgehen - der gute Bulle und der böse Bulle: Mit dem Entwurf gibt sich die SPD fortschrittlich, die CDU mit ihrer Kampagne »gegen die doppelte Staatsbürgerschaft« gibt sich ebenfalls »ausländerfreundlich«, besetzt dabei aber die rechte Ecke, indem sie durchblicken läßt, daß man bei ihr gegen die Ausländer unterschreiben kann, und formuliert den Anspruch, es dürfe keine Partei rechts von ihr geben.

Linke, von Liberalen und bürgerlichen AusländerfreundInnen über Gewerkschaften bis zu AntiFa und HausbesetzerInnen, stürzen sich auf die CDU wegen ihrer »Ausländerfeindlichkeit« und machen es erstmal sehr schwer, die SPD/den Staat zu kritisieren. Eben und nur weil es von rechts angegriffen wird, wird das Gesetz als Durchbruch gegen das Abstammungsrecht hochgehalten, der um jeden politischen Preis verteidigt werden muß und darum nicht genauer untersucht und kritisiert werden darf.

Der Gesetzentwurf von Schily ist inzwischen vom Tisch, aber der inhaltliche Kern wird beibehalten werden. Das Gesetz zur Einbürgerung soll »die AusländerInnen« spalten in regelgerecht verwertbare (oder verwertende) NeubürgerInnen auf der einen und aus verschiedenen Gründen als Deutsche Unerwünschte (und Illegalisierbare) auf der anderen Seite: ein klassisches Einwanderungsgesetz. Die Migration ist einerseits nicht zu verhindern, andererseits ist sie notwendig: für den Sozialstaat, da die Beitragszahler auszusterben drohen; für die Kapitalisten, die einen Niedriglohnsektor wollen. Wichtig ist, daß der Staat die Kontrolle über die Zusammensetzungsprozesse behält. Schilys erste Amtshandlung als Innenminister bestand darin, auf dem Flughafen in Frankfurt/Main den BGS und das Lager zu besuchen und deren gute Arbeit gegen die unerwünschte Spielart der Migration zu loben.

Während also der in die Arbeitsgesellschaft integrierte Teil der »Ausländercommunities« durch die vorgesehene Neuregelung gleichgestellt werden soll, trifft es den Teil der ersten Generation, der nie Deutsch gelernt hat, sowie diejenigen der zweiten oder dritten Generation, die noch nie sozialversicherungspflichtig gearbeitet haben, keinen Schulabschluß, eine Verurteilung wegen Cannabis oder AntiFa haben usw.. Genau diejenigen also, die nicht wie ihre Eltern in der Fabrik schuften wollen. Hier soll der Druck noch wirksamer werden, daß der Paß nur mit Job und Ausbildung und Wohlverhalten erreichbar ist; wer das nicht will, hat auf Dauer kein Recht auf Aufenthalt.

Workfare ist auch die Parole für den Umbau des Sozialstaats. Wir sind nicht soweit, das alles in einem Guß analysieren zu können. In diesem Zirkular kommt erstmal ein Beitrag zu den kommunalen Programmen für Langzeitarbeitslose. Zwang zur Arbeit, da wissen wir, woher der Wind weht.

Trotz ihrer rechten Positionen übt die rot-grüne Regierung eine Sogwirkung auf linke Gruppen aus, die glauben, nun bei der Reform Gehör zu finden und ihre Aktionen darauf ausrichten, an den Verhandlungstisch geladen zu werden. Das ist keine Erscheinung, die auf Deutschland beschränkt ist. Von Finnland bis Spanien, von Kanada/USA bis Australien und Neuseeland gibt es Initiativen, die Arbeitszeitverkürzung und Existenzgeld fordern. Andererseits wird weltweit in den Industrieländern, und vermittelt durch sozialdemokratische Regierungen, ein Angriff auf die jüngere Generation gefahren, um sie an die Arbeit zu bringen. Ein Widerspruch?

Von GenossInnen, die als Prekäre in Spanien kollektiv gegen Sklavenhändler kämpfen, drucken wir einen Text ab, der mit scharfen Angriffen auf die Arbeit beginnt und angesichts der Hoffnungslosigkeit der Situation mit der Forderung nach Existenzgeld (für die nächste Generation!) endet. KongreßveranstalterInnen in Berlin versuchen mittels der Forderung nach Existenzgeld die Massen hinter sich zu bringen. Bei denen hilft alles Argumentieren wohl nichts mehr, denn die Gegenargumente werden zynisch vorweggenommen und in die Argumentation eingebaut, so daß ihre Position nicht mehr hinterfragbar ist. Das reicht bis zu: wer heute noch von Klassenkampf redet und von Revolution nicht schweigt, der lebt hinterm Mond, ist »Revolutionarist« oder »Evangelist«. Da wir nicht alle über einen Kamm scheren wollen, kommt unsere Kritik in mehreren Teilen.

Aus Rußland haben wir einen Text erhalten über ArbeiterInnen, die in ihrem Betrieb seit einiger Zeit eine autonome Versammlung organisieren. Sie suchen Kontakt zu Arbeitergruppen in Europa.

Der Brief von John Holloway bezieht sich auf das Vorwort in Zirkular 45 und den Text von Deneuve/Reeve im Zirkular 22 über Chiapas, EZLN und Proletarisierung.

Zur Beilage: Das Zirkular ist aus der Erkenntnis entstanden, daß wir uns neue theoretische Grundlagen erarbeiten müssen. Auch diesmal wieder harte Krume, und wie meistens ist es lohnend, sich durchzuackern. Der Text von Loren Goldner ist von 1991 und stellt sich die Frage, was 1989 eigentlich zusammengebrochen ist. 1989 war das Ende »eines langen etatistischen Umwegs in der Geschichte der Emanzipation der Arbeiterklasse, der in Wirklichkeit viel mehr mit einem Ersatz für die bürgerliche Revolution zum Zweck der Industrialisierung zurückgebliebener Gesellschaften zu tun hatte als mit dem Sozialismus oder dem Kommunismus«. Hierin sieht er die Möglichkeit, den Blick auf den Kommunismus, als die unter unseren Augen vor sich gehende Bewegung, wieder frei zu bekommen. Heute leben wir in einer voll kapitalistischen Welt, die zudem an allen Ecken und Enden Krisen produziert. Geöffnete Augen sollten also fündig werden können.

H./ B.


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